Von Erich Kettenhofen - Deutsch-Armenische Gesellschaft (DAG) 185, décembre 2019

Janine Altounians Autobiographie

Von Erich Kettenhofen - Compte-rendu paru dans la revue en ligne Deutsch-Armenische Gesellschaft (DAG) 185, décembre 2019

Das Foto auf dem Deckblatt des Buches zeigt die Ruine einer Kirche in Kozluca, einem Dorf nur wenige Kilometer westlich von Ani gelegen, der mittelalterlichen Hauptstadt Armeniens im 10./11. Jh. n. Chr. (1). Es steht, wie auch die Fotos Nr. 2-4, in keinem Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches, in dem die inzwischen über 85 jährige Autorin Janine Altounian (2) über ihr Leben berichtet. Unter dem Obertitel L’effacement des lieux (Die Auslöschung der Orte) beschreibt sie ihr Buch als „Autobiografi e einer analytischen Forscherin, Erbin von Überlebenden und Übersetzerin von Freud“ (Autobiographie d’une analysante, héritière de survivants et traductrice de Freud). Seit ihrer ersten Arbeit (3) hat sie weitere zahlreiche Bücher und Aufsätze verfasst, deren Genese in der hier vorliegenden Autobiografie nachgezeichnet wird (4), und die in der Mehrzahl ihrem armenischen Erbe geschuldet sind.

Die Autorin ist 1934 in Paris als Kind armenischer Eltern geboren, die dem Genozid des Jahres 1915 im Osmanischen Reich entronnen waren. Auch wenn dieser keinen thematischen Schwerpunkt des Buches bildet, ist gleichwohl der Bezug zu diesem bis heute von der Türkei (L’État héritier du crime, S. 18) geleugneten Verbrechen in vielen Äußerungen, abgedruckten Fotos, Zitaten und weiteren beigefügten Zeugnissen überdeutlich. Das in meiner Sicht Bewegendste ist das kleine Schulheft mit insgesamt 34 Seiten ihres Vaters Vahram Altounian (*1901), in dem dieser nach seiner Ankunft in Frankreich, dem ‚fremden Land‘, seine Erlebnisse in den Jahren 1915 -1919 in osmanischem Türkisch mit armenischen Buchstaben (5) niederschrieb. Erst im Jahr 1978, acht Jahre nach dem Tod von Vahram Altounian, sprach die Mutter der Autorin von einem Manuskript ihres Mannes, über das dieser geschwiegen hatte und das in einem Schrank aufbewahrt worden war. Die Autorin veranlasste, dass das Manuskript von Krikor Beledian (*1945) ins Französische übersetzt wurde. Der Text ist im Jahr 1982 erstmals publiziert worden und ist dann in der Folge, so die Verfasserin, in all ihren späteren Arbeiten zitiert und kommentiert worden (6). Welche Empfi ndungen die Übersetzung bei ihr auslöste, wird sehr einfühlsam beschrieben (S. 85-93). Die Weitergabe der Spuren der Vernichtung einer Kultur und ihrer Orte (7) sieht J. Altounian als ihre verpfl ichtende Aufgabe (zum „Übersetzen verdammt“, heißt es auf S. 125); die Erfahrung einer Auslöschung fordert, so die Verfasserin, in die Sprache des „Anderen“ übersetzt zu werden, um es so in die Erinnerung der Welt einzuschreiben. Die Erben eines Massenverbrechens wie dasjenige von 1915/1916 im Osmanischen Reich können so lange verdrängte Inhalte zu Tage fördern. Die Bemühungen der Verfasserin, das Büchlein ihres Vaters dem Vergessen zu entreißen, zeigen zudem exemplarisch, dass es unter Umständen mehrerer Generationen bedarf, bevor das im Aufnahmeland Übersetzte im soziokulturellen und politischen Umfeld Wurzel fassen kann (8). Die 30jährige Arbeit an der Übersetzung der Werke von Sigmund Freud ins Französische, deren Beschreibung m. E. einen allzu großen Raum beansprucht, hat zweifellos geholfen, aus psychoanalytischer Perspektive den Fragen nachzugehen, die mit dem Traumatischen und seiner Wiedergabe über die Generationen hinweg verknüpft sind. Für einen Nichtmuttersprachler ist die Lektüre des Buches mitunter recht mühsam.

 

Das Buch hat, wie die Verfasserin mit Recht einräumt, testamentarischen Wert, geschrieben von einer „Armenierin aus Frankreich“, die diesem Land dankbar ist, das ihr das Schreiben wie die Übermittlung ihres Erbes ermöglicht hat (so S. 20). Sie selbst gehört einer Generation der Kinder von Überlebenden des Genozids an, die nun selbst langsam ausstirbt. Das Buch richtet sich an Leser der jüngeren Generation, auf die die Verfasserin ihr Vertrauen und ihre Hoffnung setzt. Ihr Blick ist jedoch nicht ungeschönt, denn obwohl einige Länder den Völkermord an den Armeniern anerkannt haben, ist seine Leugnung der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Interessen vieler Länder mit der Republik Türkei geschuldet.

Der Druck des Buches ist tadellos, 11 Illustrationen sind beigegeben, Bibliographie, ein Personenindex sowie eine Inhalts angabe sind ebenfalls hilfreich. Der/die Leser/in hat hier ein bewegendes Zeitzeugnis vor sich von einer nunmehr 85-Jährigen, die, was nur der Artikel bei Wikipedia verrät, zu den Gründungsmitgliedern der Internationalen Vereinigung zur Erforschung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und der Genozide (im Jahr 1997) gehört.

 

Endnoten:

(1) Vgl. die aufschlussreichen Hinweise in ADK, Nr. 184, 2019, S. 19.

(2) Vgl. http://janinealtounian.com

(3) „Wie kann man Armenier sein?“ (Comment peut-on être Arménien?) in: Les Temps modernes 31, décembre 1975. Die Publikation wurde Simone de Beauvoir verdankt, der Lebensgefährtin von J.-P. Sartre. Vgl. S. 241 und S. 259.

(4) Auf S. 4 sind 8 Werke aufgelistet, darunter auch Übersetzungen ins Italienische und Türkische.

(5) In Illustration 3 auf S. 78 ist die erste Seite des Manuskripts abgedruckt, auf den S. 86-87 ist es ausführlich beschrieben. Auf S. 99 ist das Deckblatt des kleinen Heftes wiedergegeben. (6) Vgl. S. 177 mit Anm. 2.

(7) Den Geburtsort ihres Vaters im heutigen Bursa in der nordwestlichen Türkei hat die Autorin im Jahr 2013 besucht. Auf den Seiten 35-41 ist der Besuch beschrieben unter dem Titel Die „Rückkehr“ offenbart die Präsenz des Unsichtbaren (Le « retour » révèle la présence de l’invisible). Foto 1 auf der Innenseite zeigt eines der „verlassenen“ Häuser der alten armenischen Viertel in Bursa im Zustand des Jahres 2013. In Anm. 3 auf S. 40 wird eine Internet-Adresse angegeben, die über das fortschreitende Verschwinden der Spuren der armenischen Vergangenheit in der heutigen Türkei informiert.

(8) Mit Recht weist die Verfasserin auf Heranuş Gadarian hin, die 60 Jahre nach ihrer Deportation ihrer damals 24jährigen Enkelin Fethiye Ҫetin ihre armenische Herkunft offenbarte; vgl. S. 195-203. Aufschlussreich sind ebenfalls die Bemerkungen zum Buch Torunlar (türk. ‚Die Nachkommen‘) von Fethiye Ҫetin zusammen mit Ayşe Gül Altınay, erschienen im Jahr 2009 in İstanbul.

 

Janine Altounian: L’effacement des lieux. 275

S. 4 Fotos. 11 Illustrationen. Presses Universitaires de France, Paris: 2019, ISBN: 978 – 2- 13- 081407-8, Preis: 25 Euro.

 

 

 

Langue: 
allemand